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12. Berlin Biennale

Messy Glossary

Das MESSY GLOSSARY ist Teil des kritischen Vermittlungsprogramms der 12. Berlin Biennale. Es ist eine wachsende, nicht-hierarchische Sammlung von Inhalten und Kontexten in Zusammenhang mit den Themen der 12. Berlin Biennale.

Mit den Stimmen der Vermittler:innen sowie eingeladenen Gästen, darunter Studierenden des Masters Art in Context an der Universität der Künste Berlin, teilt es subjektives, situiertes und poetisches Wissen ohne Anspruch auf Vollständigkeit, um einen Raum für fließende Bedeutungen und neue Beziehungen zu öffnen.



A

Amnesia

Vorgeschlagen von Yanka Smetanina

Amnesie ist eine Gedächtnisstörung, die durch ein psychisches oder organisches Trauma verursacht wird. Aufgrund der unvermeidlichen Angst vor dem Gedächtnisverlust und des schönen Namens wird die Amnesie in der Gesellschaft oft romantisiert und als einfacher Ausweg aus einer unangenehmen Situation oder als ultimative Freiheit verkauft. Aber selbst bei vorübergehenden Beeinträchtigungen sieht es bei näherer Betrachtung nicht so romantisch aus: Mit dem Verlust des Gedächtnisses verliert man auch die Fähigkeit zur Kommunikation, einen Teil der Persönlichkeit, des Selbsts. Was ist zum Beispiel über die soziale/historische Amnesie zu sagen, die nicht nur eine Folge schwerer traumatischer Perioden der Geschichte sein kann, sondern auch ein ständiger Gegenstand der Manipulation durch die dominanten Gruppen der Gesellschaft, um ihre Narrative zu konstruieren? Bei einer absoluten Ablehnung der Vergangenheit besteht die Gefahr, dass sich historische Fehler wiederholen, wofür jeder Krieg ein klassisches Beispiel wäre.

Auf der anderen Seite führen Denker:innen und Künstler:innen einen erbitterten Kampf gegen den Verlust des Gedächtnisses durch Musealisierung und das Globale Archiv und sehen sich mit einem neuen Phänomen konfrontiert: dem digitalen Gedächtnis und folglich der digitalen Amnesie. Der moderne Mensch führt ein weitgehend aktives elektronisches Leben und hinterlässt in der Realität weniger Artefakte als die Menschen der Vergangenheit.



Ausstellung

Vorgeschlagen von Min Kyung Kim

Eine kurze Checkliste als eine Grundlage für eine Ausstellung:

– Ausstellung heißt eine temporäre Präsentation, bei der künstlerische Arbeiten an einem Ort zur Sichtbarkeit bezweckt dargestellt sind.
– Ausstellung bietet einen Raum für Erfahrungen und erschafft einen Denkraum für dich und unsere Mitmenschen.
– Der Präsentationsort, dessen Kontext und Publikum sollen beim Ausstellungsplan und Aufbau miteinbezogen werden.
– Die Form und der Inhalt des Kunstwerks sind nicht vordefiniert.
– Wo die Arbeit präsentiert ist, definiert ein Ausstellungsraum.
– Wo die Arbeit präsentiert ist, definiert dein Publikum.
– Dauer bedeutet die funktionale Bereitschaft der künstlerischen Arbeit für das Dreieck: Werk, Publikum und Dialog.
– Wer bist du? Warum machst du das?
– Was ist noch nicht geschrieben?


B

Bewegung der Blockfreien Staaten

Vorgeschlagen von Sinthujan Varatharajah

Die Bewegung der Blockfreien Staaten [Non-Aligned Movement] entstand in der Hochphase der sogenannten Entkolonialisierung. Dutzende ehemals kolonisierte Bevölkerungen fanden sich zu dieser Zeit in neuen Staatsgebilden wieder, die FORMELL nicht mehr an die Kolonialmetropolen gebunden waren. Gleichzeitig befanden sich diese neuen künstlichen Staatsgebilde auch auf einer neuen Weltkarte. Im Versuch diesen neuen Platz, der ihnen auf dieser imperialen Karte zugeteilt wurde, zu behaupten, begannen sie eine Möglichkeit der Orientierung dafür zu schaffen, wie sie sich auf imperialen Linien bewegen konnten. Sie versuchten sich eine politische Existenz und Ordnung unabhängig von den ehemaligen Kolonialmetropolen vorzustellen. Bei der Bandung-Konferenz (1955) verfassten sie utopische Ziele für ihren Wunsch nach einem kollektiven Dasein und Wachsen, entgegen der vielen durch die Imperialmächte auferlegten Diktate. Obwohl die Bewegung sich einer Idee verpflichtete, eine andere Welt zu denken und zu schaffen, war es ihr langfristig nicht möglich, aus der Welt herauszubrechen, in die sie gewaltvoll hineingeworfen wurden. Stück für Stück fing sie an mit ihr im Gleichschritt zu gehen. Ihr Versprechen bleibt bis heute ungelöst.



Biennale

Vorgeschlagen von Alex Ostojski

Sind Biennalen Ausdruck eines unersättlichen Expansionsstrebens, das auch die Kultur erfasst hat und Spektakel immer enormeren Ausmaßes produziert? Kann die Maschinerie des Biennalebetriebes zugunsten einer nachhaltigen Arbeits- und Produktionsweise verlangsamt werden? Wie können Biennalen – verstanden als Plattformen für internationale kulturelle Kollaborationen – ihre institutionellen Strukturen verändern, um dekoloniale und kapitalismuskritische Diskurse in Praxen zu überführen? Demonstrieren Biennalen bloß noch die Fähigkeit des Kapitalismus, alles zu vereinnahmen – selbst die Systemkritik? Oder birgt die Dekolonisierung des Formats vielmehr das Potenzial zur Mobilisierung von Widerstand durch transnationalen Austausch?



Bildung

Vorgeschlagen von Laura Hagemann

Sich ein Bild von etwas machen – sich bilden – gebildet werden – etwas Neues lernen – Komplexität von Zusammenhängen vielleicht ein weiteres Mal verstehen – oder auch nicht. Durch wen oder was mache ich mir ein Bild? Wer bildet in mir die Bilder, die dann Teil meiner Bildung werden? Wer entscheidet, was sichtbar gemacht wird? Über was gesprochen wird? Wem was erzählt wird? Wer welche Zugänge hat oder eben auch nicht? Wer sind die Mitspielenden? Über wen und was wird gesprochen? Und warum? Wer wird ausgeblendet? Wer kommt zur Biennale? Wer kommt nicht? Wer wird überredet zu kommen? Von wem? Und warum? Wer lernt etwas auf der Biennale? Was wird dort gebildet? Was wird dort gelernt? Ist die Biennale ein Ort, an dem ein Bildungsprozess stattfindet? In welchen Kontexten möchte ich lernen? Wie können Settings geschaffen werden, in denen alle Fragen willkommen und vollkommen ok sind? Wo ich keine Angst haben muss, zu verraten, dass ich noch nichts kapiert habe? Und wenn ich etwas kapiert habe, bin ich dann dankbar für den kleinen Geistesblitz? Sich ein Bild von etwas machen – sich bilden – gebildet werden – etwas Neues lernen – Komplexität von Zusammenhängen vielleicht ein weiteres Mal verstehen – oder auch nicht.


D

De/humanization

Vorgeschlagen von Sibongile Oageng Msimango

The fallacy that certain human life is of greater worth than others, which leads to the denial of agency, rights and privileges of those wrongfully deemed of lesser value. This festering sense of entitlement breeds contempt and cruelty in place of compassion, the basic unit of connection that forms humanity.

Touching my hair (or anything else on my body for that matter) without my consent.

Blatant disregard of boundaries.

Gruesome display of certain bodies, consumed like ice-cream.

Calloused civilization.

Us vs Them.

= Violence.



Dekolonial

Vorgeschlagen von Arootin Mirzakhani

Ein Rückgängingmachen abgeschlossener Gewaltakte – Präfix:De+Gewaltakt:Kolonialismus – macht aus sprachlicher_historischer Perspektive Sinn, ist semantisch jedoch zu schnell. Was, wenn Präfix und Wortstamm nur dazu in der Lage sind Bedeutung zu archivieren. Wie regulieren_unterstützen unsere Rechtssysteme, Förderungsmechanismen und Erwirtschaftungsstrukturen Progressivität. Wie ist die Institution:Kunst und deren Verwaltung durch kuratorische und vermittelnde Arbeitskraft eine Erweiterung dieser Regulatorien. Wie sind Kunstinstitutionen überhaupt in der Lage über ein Rückgängigmachen von Gewaltakten zu sprechen, wenn sie selbst durchtränkt sind von betriebsblinder Macht_Gewalt. Ist Dekolonialismus nicht die Weiterführung linearer Denklogiken hegemonialer Strukturen, wenn das Sprechen über De_Kolonialismus Kunstinstitutionen in ihrer Struktur nicht beeinflusst. Was, wenn das Fragen nach und Finden von neuem Vokabular nicht zielführend ist. Was, wenn wir intellektuell-diskursive Räume nicht mehr brauchen. Formen des Handelns, die sich auf Gewalt verhalten müssen. Formen des Sprechens, die auf im_materielle Verhältnisse, Mitveranwortung und Integrität setzen können. Formen des Zuhörens, die Egos und Gefühle bereits mitdenken und mitverhandeln. Formen des Schauens, wo unsere Blicke die öffentlichen und privaten Barrieren durchdringen. Formen des Riechens, wo Geruch und Erinnerung Orte archivieren. Formen des Schmeckens, wo Erde, Luft und Wasser wesentlich sind für lokale Gesellschaften. Wir brauchen handlungsorientierte Praxen, welche durch das Machen anders denken.

Vorgeschlagen von Léopold Lambert

Angesichts der Vereinnahmung des Verbes „dekolonisieren“ für die liberale Reform kolonialer Institutionen („Museen dekolonisieren“, „Universitäten dekolonisieren“ …, bald werden wir noch „die Polizei dekolonisieren!“), ist es wichtig, an den bahnbrechenden Aufsatz von Eve Tuck und K. Wayne Yang, DECOLONIZATION IS NOT A METAPHOR [Dekolonisierung ist keine Metapher], zu erinnern. […] Der Begriff „dekolonial“ bezieht sich vor allem auf das Projekt der Rückgewinnung Indigener Souveränität auf dem Land, das die Kolonisator:innen gestohlen haben und auf dem sie verschiedene Regime des Extraktivismus sowie individualisiertes und spekulatives Eigentum durchgesetzt haben. Das dekoloniale Projekt verlangt nicht die Wiederherstellung der vorkolonialen Bedingungen dieses Landes, so wie ein Ökosystem nie in seinen „ursprünglichen“ Zustand zurückkehren kann, nachdem es der Toxizität ausgesetzt war. Stattdessen passt es sich an seine gegenwärtigen Bedingungen an und baut auf diese auf, sobald die Quellen der Toxine beseitigt worden sind. Die Notwendigkeit, auf den Ruinen des Kolonialismus aufzubauen, muss aber in Zusammenhang mit der enormen zeitlichen Dimension Indigener, auf das Land bezogenen Pflege- und Verwandtschaftspraktiken sowie den Millionen Jahren der Existenz von Ökosystemen gesehen werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen die zwei bis fünf Jahrhunderte des europäischen Kolonialismus als eine kleine Klammer, die nicht das A und O der Identität des Landes und seiner Bewohner:innen definieren sollte. Es bleibt zu hoffen, dass eine solche Behauptung als Versprechen für eine dekoloniale Zukunft und nicht als Verharmlosung kolonialer Gewalt gelesen werden kann.

Auszug aus: Léopold Lambert, "Decolonial Ecologies. Introduction", THE FUNAMBULIST, 1. Mai 2022



Digitale Identitätsarbeit

Vorgeschlagen von Vladen Joler

Freiberufler:innen, Selbstständige, Erwerbslose und alle Grauzonen dazwischen, die die heutige Arbeitswelt konstituieren, sind gezwungen, immer mehr Zeit damit zu verbringen, ihre Profile zu pflegen und (indirekt oder direkt) ihre Expertise, Erfahrung, Erfolge, Meinungen und Tätigkeitsnachweise anzubieten, ähnlich den Sexarbeitenden in den Schaufenstern der Rotlichtviertel. Digitale Identitätsarbeit ist die Zwangsarbeit des 21. Jahrhunderts. Aussteigen ist bestenfalls Wunschdenken.

Source: GLOSSARY OPEN SECRET



Digitaler Kolonialismus

Vorgeschlagen von Vladen Joler (Glossary – Open Secret)

Digitaler Kolonialismus ist der Einsatz imperialistischer Macht in Form von neuen Regeln, Designs, Sprachen, Kulturen und Glaubenssystemen im Interesse der Herrschenden. Die traditionelle koloniale Praxis der Kontrolle über zentrale Wirtschaftsgüter, Handelsrouten, natürliche Ressourcen und die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ist immer noch tief in die heutigen Lieferketten, Logistik und die Fließbänder digitaler Inhalte, Produkte und Infrastrukturen eingebettet.


E

Else_where?

Vorgeschlagen von Sibongile Oageng Msimango

An indication that what exists here. Now. In the current. In the present. Also exists in another time, context, space and place. Here, and in addition: There.

;

A longing to move away, a desire to detach from where one may be presently planted and/or actually based. Somewhere over the rainbow. Somewhere at the end of the yellow-brick road. On the other side of the fence, the common belief is that the grass is greener.



Eurozentrismus

Vorgeschlagen von Rami Shalati

Entstanden zur Zeit der Kolonisierung versteht ein eurozentrisches Weltbild Ideen, Wertvorstellungen und Lebensweisen, die in europäischen Ländern entstanden sind. Der Begriff ist vielmehr ideologisch als geografisch geprägt, weshalb andere westliche Länder wie die USA oder Kanada ebenso dazu zählen. Zu den Werten gehören auch technische Errungenschaften und politische Systeme, die als „zivilisiert“ und „fortschrittlich“ betrachtet werden. Eurozentristische Handlungen zeichnen sich durch dominantes, bekehrendes, „richtiges“ beziehungsweise missionierendes Verhalten gegenüber Menschen und Staaten aus, die (zugeschriebenerweise) andere Wertvorstellungen leben oder andere gesellschaftliche Systeme haben. Zudem beschreibt Eurozentrismus die Vorherrschaft von westlichen, weißen Perspektiven in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft.



Exotisch

Vorgeschlagen von Samira Ghoualmia

Das Exotische ist in der europäischen Literatur oft gleichzusetzen mit dem Schönen, schreibt der kamerunische Literaturwissenschaftler David Simo. In WEISSE Imagination ist exotisch gleich sexy, unbekannt und potenziell transformierend. Die narzisstische Illusion als Verlangen nach ETWAS ANDEREM, was um jeden Preis besessen werden muss.

WEISS Imagination schafft gefräßige Konsument:innen: der Sehnsucht lechzend, sich selbst spüren wollen. Die Sehnsucht, sich nahe zu kommen und endlich Selbstgenuss zu erfahren. bell hooks benennt diese Verzahnung WEISSE Fantasien des Exotischen und der Kommodifizierung des ANDEREN unter dem Imperativ kapitalistischen Konsums. Aufgequollen und nimmersatt feiert die europäische kapitalistische Völlerei ihr falsches Spiegelbild, was jedoch sogleich wieder verpufft. Diese WEISS Kommodifizierung ist ein Akt von Gewalt, gierig das als fremde ANDERE kategorisierte zu verschlingen.



Extraktivismus

Vorgeschlagen von Christopher Wierling

Erdboden umstülpen: Maulwürfe, Würmer und Mikroorganismen arbeiten sich durch, verdauen und erzeugen das komplexe Gemisch namens Erde. Doch extraktive Ökonomien sorgen sich nicht um unterirdisches Leben. Das toxische, materielle Erbe WEISSE Kapitalakkumulation verschmutzt Böden, Gewässer, Blutbahnen und Lungen mit Schwermetallen und mineralischem Feinstaub. Um über die Mine als einer der Räume der organisierten Gewalt und Zwangsarbeit – betrieben mit der genozidalen Ausbeutung und Vertreibung Schwarzer und Indigener Leben – in der Moderne nachzudenken, bedarf es einer behutsamen Beachtung der spezifischen historischen und lokalen Verstrickungen und Differenzen von Minen, Fabriken, Lagern, Plantagen. Es bedarf aber auch einer Befragung dazu, inwieweit sich die Gewalttechniken dieser Institutionen gegenseitig informiert haben.

Oberflächliches Buddeln befördert die gleichen essentialistischen Kategorien, enthistorisierte Fossilien aus Zeiten, die sich dem Erinnerbaren entziehen zu scheinen, die uns immer und immer wieder abfucken. Dennoch, ein Glossareintrag erlaubt nur ein Ankratzen: Krallen, Hacken, Schaufeln. Ausgrabungsstätten, Skelette, Museen. Eigentum. Mythen abenteuerlicher Schatzsuchen, Jahrhunderte der Kolonisierung und Versklavung. Streikende Minenarbeiter:innen. Pipelines, Förderbänder, Flugzeugtanks (sabotieren). Seltene Erden bilden un-/antastbare Verbindungslinien zwischen Infrastrukturen der Wissensproduktion und der tödlichen Arbeit der Subalternen untertage. Bildschirme, Batterien. Entwaldet und ausgestorben. Verschluckte Orte. Kryptowährungen. Lebendig begraben werden.


F

Feld der Emotionen

Vorgeschlagen von Feben Amara

Scham, Freude, Apathie, Wut, Überforderung, Angst, Ausweglosigkeit, Ekel, Erschöpfung, Desillusion, Depression, Liebe, Neid, Verachtung, Hass, Rastlosigkeit, Resignation, Trauer, Überraschung, Schock, Hoffnung, Manie.

Eine Emotion ist
die Transformation eines Affekts.
Beeinflussung deiner Politiken.
die Repräsentation einer nicht-bewussten, nicht benennbaren Erfahrung.
die Materialisierung einer körperlichen Regung.
vorgeprägt, eingeübt, wiederholt.
lesbar, ein Zeichen innerhalb eines kulturellen Kollektivs.
ein symbolischer Vorgang.
eine umstrittene Angelegenheit.
mehr als ein Emoji und weniger als eine Einstellung.
etwas anderes als ein Gefühl.



Fragment

Vorgeschlagen von Christopher Wierling

Was wenn Wörter (Welten) an anderen Stellen umbrechen würden, als es die Regeln der Silbentrennung oder das gewohnte Gehör vorschreiben: G-ener-ati-on-en, Fre-unds-c-haft-en, Ges-c-hic-hten, Solid-ar-i-tät. Ve-rs-chlep-pt, en-tre-chtet. Welche Einheiten gilt es zu zerreißen und welche müssen repariert werden? BODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY-ODY.
Die kartesianische Leib-Seele-Dichotomie hallt aus einer Vergangenheit wider, die auf ihrer innigen Kenntnis der gewaltsamen Teilbarkeit von Körpern gebaut ist. Doch Vorstellungen vom Ganzen sind ebenso konfliktreich, verwickelt mit Ausschlüssen und faschistischen Idealen von Reinheit. Durch gewaltsame Geschichten und andauernde Formen der Unterdrückung hinweg haben erfindungsreiche und widerständige Zugriffe auf die Teilung von Körper und Geist Wege und Techniken hervorgebracht, sich erzwungenen traumatischen Einschließungen zu entziehen. Einige Fotografien, Zeichnungen, Notizen, Erinnerungen, Träume, Schnipsel haben es aus diesen Räumen als Zeug:innen herausgeschafft – durch’s Schmuggeln oder Verstecken. Zerstreut, in Fetzen. Eigensinnige Fasern kolonial verzerrter Figuren sind durch das zerschlagene Glas der Museumsvitrine dem ethnologischen Diorama entkommen. Diese Splitter durchdringen Häute, Wände, Grenzen und überqueren Ozeane. Die Bewegungen, die sie beschreiben, werden in heimlichen Botschaften weitergetragen. Unterschlupfe werden organisiert; Leute versammeln sich. Fortwährende Kämpfe: entgegen allen Widrigkeiten materialisiert sich Zusammensein.

Vorgeschlagen von Muna AnNisa Aikins

Vollständige Fragmente.
Zerbrochene Teile ganz.

Elemente.
Fragen. Teile. Sehen. Verstehen.
Fühlen.
Tragen.

Segmente.
Erinnerungen.
Ganze Trauer,
fragmentarische Freude
erleben
leben.

Momente.
Bruchstücke. Identifizieren.
Verlieren.
Kreieren.

Fragmente.
Verlieben in wer ich bin.
Vertiefen.
Ganz sein.

Zersplittert gewesen sein.
Verbinden, zusammenkommen, mehr sein.

Im Dazwischen verbunden.
Fragmente aus Wunden
gesunden.

Unvollendet schöne Antworten,
in uns aus vielen Orten,
Elemente.

Zerbrochene Teile ganz.
Vollständige Fragmente.



Fürsorge

Auszug aus dem Text WHAT IF WE DIDN’T CARE von Esther Poppe und Arootin Mirzakhani

Wie sieht Fürsorge aus, wenn man sich in einer Machtposition befindet? Wie sieht Fürsorge aus, wenn man sich nicht in einer Machtposition befindet?

Vorgeschlagen von Thị Minh Huyền Nguyễn

Wie sieht Fürsorge in unserer komplexen Gesellschaft und unseren momentanen Leben aus?

Sorgst du dich um mich? Sorg dich.

Ich sorge mich um dich. Fürsorgen. Fürsorge-Arbeit.

Wer macht eigentlich Fürsorge-Arbeit? Wieso ist sie geschlechtsspezifisch?

Wie sorgst du dich für dich? Für andere?
Ich kümmere mich. Ich kümmere mich um das. Ich kümmere mich um sie.

Kannst du dich bitte kümmern? Kümmerst du dich eigentlich?
Ich kümmere mich nicht.

Selbst-Fürsorge. Gemeinschafts-Fürsorge.

Wie sieht eine Zukunft der Fürsorge – des Fürsorgens aus?


H

Hydro mystisch

Vorgeschlagen von Jeanne-Ange Megouem Wagne

Die weiten Tiefen des Wassers beherbergen göttliche Ewigkeiten. Sirenen, Meerjungfrauen und Mami-Wata, nicht ganz und doch dieselbe Ewigkeit in halb menschlich-weiblichem Gewand. Mami-Wata, der gefürchtete Vodun-Spirit des Kontinents und seiner Diaspora, denn auch an ihr haftet die in bittere Sehnsucht getränkte menschliche Angst vor der nährenden, tränkenden Kraft der weiblichen Wahrheit.

Quelle: GLOSSARY OPEN SECRET


I

Imperialismus

Vorgeschlagen von Raoul Zoellner

Imperialismus ist ein Spiel, das an extrem langen Tischen gespielt wird, in Hinterzimmern voller Männer und Megalomanie. Es erfordert mindestens einen Spieler und endet bestenfalls mit nur einem Spieler. Die Spielbretter sind faltbare Karten. Nimm einen Stift, um willkürlich Linien darauf zu kritzeln. Sei kreativ. Zeigt ein anderer Spieler die geringste Form von Zurückhaltung, verbünde dich mit Gegenspielern, reiß ihm seinen Stift aus der Hand und STECH IHN IHM IN DEN RÜCKEN. Momentum ist alles. Paranoia und Wahnvorstellungen sind deine treuesten Berater. Hör auf beide um zu erkennen, dass Moral und Regeln Fallen sind — aufgestellt von anderen an deinem Tisch. Bleib sauber und du hast am Ende selbst den Stift im Rücken. Mach dir die Hände schmutzig und der extrem lange Tisch gehört am Ende ganz allein dir. Man wird dich verewigen — du auf einem Pferd, beide in Bronze gegossen, irgendwo an einer Straßenecke — bis dein Reiterstandbild von ikonoklastischen Mobs besprüht und niedergerissen wird. Am Ende ist alles kaputt — bis neue Männer in neuen Hinterzimmern anfangen neue Linien zu kritzeln.



Information

Vorgeschlagen von Heiko-Thandeka Ncube

Wäre dies kein MESSY GLOSSARY, würde ich eine Definition vorschlagen, die Information sorgfältig zwischen Daten und Wissen platziert, zwei Schritte entfernt von Weisheit. Etwas zwischen den Linien von Bausteinen und Stadien der Konstruktion abstrakten Wissens aka WISSENSZUSAMMENHÄNGE. Davon abgesehen scheint es viel interessanter zu betrachten, wie wir mit Informationen umgehen, und nicht, was sie eigentlich sind. Information ist auf die eine oder andere Weise Material und wir Kunstarbeiter:innen haben Freude am Formen, Gestalten und Verdrehen von Material aller Art. Dabei sind Kausalität und Assoziation Werkzeuge, mit denen wir intellektuelle künstlerische Erfahrungen schaffen. Während die Wahrheit in der Wissenschaft auf Kausalität beruht, blüht die Assoziation im Bereich der Kreativität und bildet den wesentlichen Mechanismus, mit dem wir hinterfragen, aber auch fühlen. Sie mögen denken, dass die Lecture Performance, die Sie gerade gesehen haben, Sinn macht, oder auch keinen. Auf jeden Fall hat sie Ihren Orientierungssinn herausgefordert und eine Bereitschaft zur radikalen Kritik hervorgerufen. Vertrauen Sie nicht der Künstlerin-als-Schriftstellerin. Vertrauen Sie nicht der Schriftstellerin-als-Künstlerin. Vertrauen Sie dem, was Sie gedacht, gefühlt oder – in Ermangelung eines besseren Wortes – erlebt haben.



Institution

Vorgeschlagen von Samira Ghoualmia

Sind Kunstinstitutionen Barrieren?


E

Exotic

Vorgeschlagen von Samira Ghoualmia

Das Exotische ist in der europäischen Literatur oft gleichzusetzen mit dem Schönen, schreibt der kamerunische Literaturwissenschaftler David Simo. In WEISSE Imagination ist exotisch gleich sexy, unbekannt und potenziell transformierend. Die narzisstische Illusion als Verlangen nach ETWAS ANDEREM, was um jeden Preis besessen werden muss.

WEISS Imagination schafft gefräßige Konsument:innen: der Sehnsucht lechzend, sich selbst spüren wollen. Die Sehnsucht, sich nahe zu kommen und endlich Selbstgenuss zu erfahren. bell hooks benennt diese Verzahnung WEISSE Fantasien des Exotischen und der Kommodifizierung des ANDEREN unter dem Imperativ kapitalistischen Konsums. Aufgequollen und nimmersatt feiert die europäische kapitalistische Völlerei ihr falsches Spiegelbild, was jedoch sogleich wieder verpufft. Diese WEISS Kommodifizierung ist ein Akt von Gewalt, gierig das als fremde ANDERE kategorisierte zu verschlingen.


K

Kapitalismus

Vorgeschlagen von Alex Ostojski

Was, wie viel und wen begehren wir? Der Kapitalismus markiert den Horizont – bis hier hin und nicht weiter, nach mir: Zerstörung. Der Kapitalismus hat längst alle Lebensbereiche penetriert; zurückgeblieben sind verwüstete Landstriche, wohin das Auge reicht, und suizidale Gesellschaften mit Stockholm-Syndrom. Gefangen in einer toxischen Beziehung will eine fragile Mittelschicht mehr, mehr, mehr von den Vorzügen, deren kurzweiliger Genuss die Gewaltexzesse vergessen macht und ein falsches Gefühl von Sicherheit schafft. Dem Peiniger verfallen hält ihre Mehrheit fest an einem System, „das im Zuge einer fünfhundertjährigen Ausbeutung der Erde immer wieder seine Unfähigkeit bewiesen hat, das Wohlergehen der Weltbevölkerung zu gewährleisten, ein […] System […], das zunehmend auf die Gewalt seiner Bomben angewiesen ist, um seine Herrschaft aufrechtzuerhalten.“(1)

1 Silvia Federici, AUFSTAND AUS DER KÜCHE. REPRODUKTIONSARBEIT IM GLOBALEN KAPITALISMUS UND DIE UNVOLLENDETE FEMINISTISCHE REVOLUTION (KITCHEN POLITICS, 1), Münster 2020.


Krise

Vorgeschlagen von Mahmoud Al-Shaer, übersetzt von Joud Tamimi


Kulturerbe

Vorgeschlagen von Samira Ghoualmia

Viele Museen sind Orte europäischer Akkumulation. Gerne zeigen sie, was geraubt wurde, ausgestellt in weißen Glassärgen (oder unsichtbar in Vergessenheit geraten in dunklen Kellern), immer jedoch als RECHTMÄSSIGE geteiltes europäisches Kulturerbe konstruiert. Solche Museen sind seit Anbeginn ihrer gewaltvollen Geburt politische Machtdemonstrationen, die erziehen wollen. Sie sind überteuert, langweilig und voller schmutziger Geheimnisse. 1920 fragte schon Paul Valéry, ob der Louvre nicht verbrannt werden sollte. Diese Frage ist – im Gegensatz zu den Museen – in Würde gealtert.


Kunstvermittlung

Vorgeschlagen von Samira Ghoualmia

Kunstvermittlung arbeitet täglich mit Verletzungen, wenn wir uns austauschen, einander zuhören, diskutieren, denken, fühlen, kreieren und dabei einen Teppich aus unvorhersehbaren kollektiven Geschichten weben. Es sind Momente des Dazwischen-seins: ein Hin-und-Her zwischen Differenzen und Konflikten, der Kunst und uns selbst, ein Zusammenschneidern lebendiger Texturen aus Geschichte, Ästhetik und Politik, ein Öffnen für endloses Suchen und (Ver-)Lernen. Diese Momente können Räume der Reparatur sein, die Verletzungen der Gegenwart und der Vergangenheit anerkennen und in einen Dialog miteinander treten.


N

Nichtmenschliche Arbeit

Vorgeschlagen von Vladen Joler

Nichtmenschliche Arbeit ist Produktion jenseits der humanen, anthropozentrischen Sphäre. Wir können in die Tiefe der Zeit zoomen und das Wirken prähistorischer Pflanzen und Tiere betrachten, das sich in der Bildung von Kohlenstoff verortet, der als Brennstoff Rechenzentren, Infrastrukturen und unsere Endgeräte versorgt. Doch wir müssen gar nicht so weit in die Vergangenheit zurückgehen, wenn wir unseren Blick auf die Aktivitäten im Mikrobiom unseres Körpers richten.


R

Resilienz

Vorgeschlagen von Muna AnNisa Aikins

In meinem Blut fließen
Träume,
aus meinen Knochen blüht
Zuversicht,
in meinem Atem ist so viel
Macht.

Perspektive,
Tiefe.
Ermächtigung.

Robust,
flexibel
und sanft.

Gestalten, leben. Leben gestalten, entfalten.
In der Veränderung wachsen.
Formen, neu formen.
Aktiv bestimmen.

Wie uns das Chaos, der Widerstand und die Freiheit dichtet.
Vers für Vers empfunden.

Wir sind ein Gedicht
instinktiv erfahrenes Wissen,
intuitiv gestaltet, geleitet.

Reflexionen, verkörpert.
Manifestiert.

Und doch müssen wir in so vielen Momenten für uns sprechen,
in denen wir atmen wollen.

Gewiss, in Freiheit atmen können.


T

Träumen

Vorgeschlagen von Feben Amara

All my dreams

In your wildest dreams
I have a dream
To live my dream,
I dream my life away

Who dreams of better days?
But I, being poor, have only my dreams;
I have spread my dreams under your feet;
Tread softly,
because you tread on my dreams.

In your wildest dreams
I have a dream
To live my dream,
I dream my life away

Dreams of realities peace.
Dreams of infinite grief.

Cause Aaliyah had a dream,
Left Eye had a dream.
So I reached out to Kanye and
(I brought you all my dreams)

A co-seduction with Martin Luther King, William Yeats, Kendrick Lamar, Ozzy Osbourne, and The Game.


Vorgeschlagen von Thị Minh Huyền Nguyễn

Im Schlaf. Im Stehen. Im Gehen. Abends und nachts. Morgens. Zwischendrin. Tagträumen. Nachtträumen.
Im Träumen verarbeiten wir das Unbewusste. Wir verarbeiten das Vergangene.
Menschen, die wir schon einmal gesehen haben. Orte, an denen wir schon einmal waren. Situationen, die schon einmal stattfanden.

Un_Bequeme Un_Wahrheiten konfrontieren uns. Oftmals in Alpträumen. Begegnungen mit Ahnen und Geistern.

Es sind mehr negative, statt positive Erfahrungen. Das sagt zumindest die Wissenschaft. Dennoch, können wir unsere Träume steuern? Mehr als nur im Schlaf träumen? Können wir unsere Zukunft erträumen? Erwünschen? Imaginieren?
Was würde es bedeuten, einen gemeinschaftlichen Traum zu realisieren? Sich tagtäglich zu erschließen? Abseits des kapitalistischen American Dreams, hin zu einer solidarischen „beloved community“, so wie es Martin Luther King und Thich Nhat Hanh nannten.
Welche Schritte müssten wir dafür tagtäglich im hier und jetzt gehen?


V

Versandung

Vorgeschlagen von Samira Ghoualmia

Entgegen weißer Imaginationen eines weiten Niemandslandes sind Wüsten kulturell lebendige Orte. Dennoch überfluten Wellen von (Neo-)Kolonialismus diese Trockenzonen, lokale Communities zerstörend, den Boden, der diese nährt, aussaugend, und sie zu Migration zwingt. Desertifikation ist eine verheerende Konsequenz menschlich verursachten Klimawandels. Wie Frantz Fanon uns erinnert, könnte die verdammte Erde in Kolonialismus, Rassismus und Gewalt ertrinken. Das ist keine Metapher. Noch ist Desertifikation eine.

Quelle: GLOSSARY OPEN SECRET


W

Widerstand

Vorgeschlagen von Mahmoud Al-Shaer, übersetzt von Joud Tamimi