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was draußen wartet

Über

Der Titel der Ausstellung, was draußen wartet, stellte künstlerische Positionen zur Gegenwart von über 40 internationalen Künstler*innen vor, die die zentrale Frage nach dem Gegenwärtigen und dem Verhältnis, das die Kunst dazu einnimmt, untersuchen. Die gezeigten Arbeiten, darunter mehr als die Hälfte Neuproduktionen, spiegelten die Vielfalt künstlerischer Aneignung und Produktion von Wirklichkeit wider, die unsere Gegenwart bestimmt, und versuchten die verschiedenartigen Wirklichkeiten unserer Gegenwart sichtbar zu machen.

Auf Einladung von Kathrin Rhomberg kuratierte der amerikanische Kunsthistoriker Michael Fried in Kooperation mit der Alten Nationalgalerie und dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin eine Ausstellung mit Werken von Adolph Menzel. Mit der Auswahl von Zeichnungen und Gouachen des großen Berliner Realisten des 19. Jahrhunderts wurde den zeitgenössischen Arbeiten eine kunsthistorische Position zu Seite gestellt, die die Blickrichtung der 6. Berlin Biennale kontextualisierte.

Kathrin Rhomberg erweiterte die Ausstellung und arbeitet in vielen Bereichen der Organisation mit Künstler*innen zusammen: Michael Schmidts Fotoserie Frauen bespielte vor der Eröffnung der Ausstellung und während der Laufzeit den öffentlichen und medialen Raum. Marion von Osten verlegte ihren künstlerischen Beitrag in die von ihr herausgegeben Ausgabe des e-flux Journals. Thomas Locher entwickelte gemeinsam mit der Grafikerin Yvonne Quirmbach die grafische Gestaltung der 6. Berlin Biennale, und Marcus Geiger entwarf gemeinsam mit Kathrin Rhomberg die Ausstellungsarchitektur.

Auftakt der sechste Ausgabe der Berlin Biennale bildete das durch die Europäische Kommission geförderte Projekt Artists Beyond, mit dem die Produktion von Künstler*innen darunter Mark Boulos, Phil Collins, Marcus Geiger, Nilbar Güreş, Petrit Halilaj, Thomas Locher und Marie Voignier an ihren Wirkungsstätten in einen öffentlichen Dialog eingebunden wurde, in dem der Entstehungsprozess der künstlerischen Arbeit für die 6. Berlin Biennale der jeweiligen Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Das dreitägige Ausstellungsprojekt La monnaie vivante / The Living Currency / Die lebende Münze (nach Pierre Klossowski) fand in der ersten Ausstellungswoche statt und wurde von Pierre Bal-Blanc für die 6. Berlin Biennale inszeniert und in Zusammenarbeit mit dem Theater HAU Hebbel am Ufer und dem Centre d’art contemporain de Brétigny (CAC Brétigny) realisiert. Das sich wandelnde Ausstellungsprojekt La monnaie vivante ist dem Vorhaben gewidmet, die vielfältigen gegenwärtigen, aber auch historischen Thematisierungen des Körpers in der bildenden Kunst mit den Körperauffassungen im Bereich von Tanz, Musik und Theater in Dialog treten zu lassen. An drei aufeinanderfolgenden Tagen wurde das Publikum im HAU zum Akteur eines performativen Prozesses, dessen Dauer es selbst bestimmte.

Eine Einzelausstellung mit Werken von George Kuchar, entstanden in Zusammenarbeit mit Marc Siegel, wurde in einer Lagerhalle in Berlin-Kreuzberg gezeigt. Am Eröffnungsabend der Ausstellung fanden Performances von Andrej Kuzkin und Marlene Haring statt. Mit unregelmäßig stattfindenden Performances griff Marlene Haring auch während der Laufzeit in die Ausstellung ein.

Kurator:innen

Kathrin Rhomberg

6. Berlin Biennale, 11.6.–8.8.2010; Kuratorin Katrin Rhomberg; Foto: Manfred Unger

Grafische Gestaltung
Thomas Locher, Yvonne Quirmbach

Katalogauszug

Was draussen wartet

Kann [die Kunst] disparate Wirklichkeiten wahrnehmbar machen und zur reflektierten Teilhabe an ihnen auffordern? Das ist die zentrale Frage, die in der 6. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst gestellt werden soll. Wie kann sie für die Betrachter zur Vergewisserung ihrer selbst und der Welt beitragen, wie dazu, dass sie anwesender in dieser Welt sind? Verfügt die Kunst über Möglichkeiten, die etwa dem Film oder anderen Medien und Kunstformen nicht zur Verfügung stehen? Wie kann sie Aufmerksamkeit für den Abstand zwischen öffentlich behaupteter Scheinwirklichkeit und persönlicher Lebenswirklichkeit schaffen, wie ihn kritisieren und bewusst machen? Wie kann sie fremde und unbekannte Wirklichkeiten anders als durch hermetisch abgeschottete Erzählformen vermitteln und damit dieses Fremde auf die eigene Wirklichkeit zurückspiegeln? Wie lassen sich heute inmitten der Bildmächtigkeit und Bilderfülle, die unsere Medien unablässig produzieren, Wirklichkeit und ein kritischer Blick auf die Verhältnisse, die sie begründen, überhaupt noch herstellen? Welches Verhältnis schließlich nimmt die zeitgenössische Kunst zur Gegenwart und ihrer "Passion für das Reale“ ein?

Auf keine dieser Fragen werden in der Ausstellung befriedigende Antworten zu finden sein. Ihr Ziel ist es nicht, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen. Sie hat dieses Ziel dann erreicht, wenn es ihr gelungen ist, Aufmerksamkeit für die Fragen zu schaffen. Im vorliegenden Katalog zur Ausstellung ist auch deshalb auf vollständige und argumentativ in sich abgeschlossene Beiträge verzichtet worden. Stattdessen wurde die Form der Gesprächsrunde gewählt, deren inhaltlicher Verlauf als einzige Vorgabe hatte, über Wirklichkeit zu diskutieren.

Rekapituliert man die Entwicklungen und Tendenzen der letzten beiden Jahrzehnte, wird man feststellen müssen, dass sich die Gegenwartskunst der zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche nicht hat entziehen können. Die Hoffnung, ihre traditionelle Widerständigkeit gegen Herrschafts- und Machtverhältnisse würde deren erstickende Vereinnahmung verhindern, hat eingedenk ihrer Geschichte ebenjenen Wirklichkeitssinn vermissen lassen, an den diese Ausstellung plädieren will. Nicht nur die Finanzwelt, auch der Kunstbetrieb hat sich zuletzt in eine wirklichkeitsferne Sphäre hochgeschraubt, in der Fantasien regieren und man nach wie vor davon überzeugt ist, dass sich selbst der offensichtlichste Schein als bedeutungsvoll erweisen werde. Die Kunst hat sich in diesem ökonomisch determinierten System radikal dereguliert, hat im Namen der Freiheit ihre Autonomie und oft auch ihre Inhalte abgeworfen. Wie unsere Welt ist sie geprägt von Ökonomisierung, Unübersichtlichkeit und Fragmentierung. Dabei scheint eine Verbindung zu existieren zwischen der Unmöglichkeit zur Orientierung in einer durch globale Krisen verunsicherten Welt und neuen Formen des Historismus, des retrospektiven Blicks und der Rückkehr zu ästhetischen und formalen Fragestellungen, die wir seit einigen Jahren in der westlichen Kunstwelt beobachten.

Zu diesem in der Kunst gegenwärtig vorherrschenden Blick, der sich nicht auf das richtet, was draußen wartet, der viel eher ein introspektiver Blick ist, sucht die Ausstellung alternative Blickwinkel.

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