Veranstaltungen
English / Deutsch

11.10.2019 | 11. Berlin Biennale c/o ExRotaprint

exp. 1: Das Gerippe von Flávio de Carvalho

Vortrag von Marcelo Moreschi

Was bedeutet es, die Arbeit des brasilianischen Künstlers Flávio de Carvalho (1899­–1973) in Zeiten des gekränkten Mittelmaßes wieder zu aktivieren? Der Vortrag untersucht, inwiefern sich der avantgardistische Aufruhr, die künstlerische Radikalität und der zivile Ungehorsam Flávio de Carvalhos gegenüber des Konsenses und der etablierten Mächte in die heutige Zeit übertragen lassen – eine Zeit, von der Marcelo Moreschi sagt, sie sei von der Kolonisierung aller Lebensbereiche durch den digitalen Kapitalismus ebenso gezeichnet wie von gut gemeinten, identitätspolitischen künstlerischen Aktivismen und vom Aufstieg der wutentbrannten Mediokrität, die uns rückschrittliches Verhalten, Intoleranz und Nationalismus aufnötigt.

Wie kann uns dieser kontroverse und noch immer nicht angemessen rezipierte Künstler dabei helfen, einige der Ängste der Gegenwart auf kritische und pragmatische Weise zu denken? Diese Frage steht im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der extravaganten, tropischen Figur Flávio de Carvalho. Diskutiert werden insbesondere zwei seiner Experiências [Erfahrungen]. Mit Experiência nº 2 führte er 1931 ein psychologisches Sozialexperiment durch, in dem er eine religiöse Prozession störte. Seine Forschung zu Kleidung und Sexualität kulminierte 1956 in Experiência nº 3: Hierbei trug er auf einem Umzug durch das Stadtzentrum São Paulos einen Minirock für den Mann.

Der Vortrag geht auch auf andere Aspekte von Carvalhos Wirken ein, etwa die routinierte Manipulation der Presse (die Praxis des Vermischens von Gerüchten und Fake News), seine Rolle in dem Projekt Mês dos loucos e das crianças [Monat der Verrückten und der Kinder] (1933), die Gründung des Teatro da Experiência [Theater der Erfahrung] oder seine „psychoethnografische“ Reise nach Europa 1934–35, bei der er sich auf die Suche nach den „Knochen der Welt“ machte: nach unerwarteten materiellen Rückständen menschlicher Animosität.

Die Analyse dieser Reise fragt auch nach Flávio de Carvalhos Vermächtnis. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei dem – nur scheinbaren – Widerspruch zwischen einer progressiven (sogar anarchischen) Praxis einerseits, die den Konsens und etablierte Mächte herausforderte, und der vehementen Affirmation der Rolle des künstlerischen Unruhestifters innerhalb der gesellschaftlichen und moralischen Ordnung anderseits. Diese Affirmation beruht auf einer eigenwilligen Mischung aus Psychoanalyse und Evolutionsbiologie, die sich im Mythos der exzeptionellen Künstler*in ausdrückt.