Projekte
English / Deutsch

11. Berlin Biennale c/o ExRotaprint

exp. 2: Virginia de Medeiros – Feministische Gesundheitsrecherchegruppe

30.11.2019–8.2.2020

Was für ein Ungetüm ist eine Menschenmenge? Welchen Druck übt ein pulsierender Kollektivkörper auf diejenigen aus, die sich in ihm, außerhalb oder unterhalb von ihm befinden? Wie lassen sich heute die Kräfte dissidenter Körper mobilisieren? Während exp. 2 aktivieren Virginia de Medeiros und die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe (Inga Zimprich/Julia Bonn) die Räume bei ExRotaprint, indem sie diesen Fragen durch radikal unterschiedliche Überlegungen zur Sexualpolitik und Sorgearbeit des kollektiven und isolierten Körpers nachgehen. Was suchte Flávio de Carvalho 1931 auf den Straßen von São Paulo, als er beschloss, sich gegen den Strom einer Fronleichnamsprozession zu bewegen? Kurz danach veröffentlichte der brasilianische Künstler ein Buch mit dem Titel Experiência n. 2 [Erfahrung Nr. 2], in dem er das Ereignis beschrieb und analysierte. Wir wissen nicht, wonach er auf der Suche war. Aber wir können über diese Intervention – die beinahe zum Lynchmord durch den wütenden Mob geführt hätte – nachdenken und daran anknüpfen, indem wir nicht nur fragen, wie wir uns selbst retten, überleben oder stärker werden können, sondern auch, was es heutzutage bedeutet, einen Körper zu besitzen.

Feministische Gesundheitsrecherchegruppe

Wie lässt sich der Angriff überleben, den der patriarchalische Kapitalismus auf unsere Körper ausübt? Furcht, Angst und Erschöpfung gehören zum täglichen Kampf, den die Selbstfürsorge mit sich bringt. Die Feministische Gesundheitsrecherchegruppe (FGRG), bestehend aus den Künstlerinnen Inga Zimprich und Julia Bonn, hat in den vergangenen Jahren gegenseitige Fürsorge als gemeinschaftlichen Akt des Widerstands erprobt. Ihre Arbeit entwickelte sich bei informellen Treffen in ihren Wohnungen – im reproduktiven Raum des Kochens und der Betreuung ihrer kleinen Kinder – und wurde zu einer Form des Wissensaustauschs rund um eine radikale feministische Gesundheitssorge. Von ihrer eigenen Situation als Künstlerinnen und Mütter ausgehend, beziehen sie die Erfahrungen anderer mit ein, die sich mit der Praxis selbstorganisierter radikaler Gesundheitssorge befassen. Ziel ist es, dieses Wissen voranzutreiben und mit anderen zu teilen. Die FGRG zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, mit denen verinnerlichte Paradigmen von Leistungsfähigkeit hinterfragt werden können; Paradigmen, die unser Verständnis davon bestimmen, wie der menschliche Körper funktionieren und produzieren soll. In der Archiv-Ausstellung Practices of Radical Health Care (2018–heute) beleuchten sie frühere, etwa in Westberlin in den 1970er- und 1980er-Jahren angesiedelte, sowie aktuelle feministische und gesundheitspolitische Bewegungen mit Verbindungen zur Radikalen Therapie, Antipsychiatrie und queeren Selbstsorge. Sie sehen darin ein Mittel, kollektive Methoden und Werkzeuge für den Umgang mit den uns umgebenden Krisen zu entwickeln. Die FGRG fragt nicht nur, wie sich kommunale, selbstorganisierte feministische Unterstützungsstrukturen schaffen lassen, sondern versteht die miteinander geteilte Verletzlichkeit als Waffe und Macht empfindsamer kollektiver Körper.

Virginia de Medeiros

Seit zwei Jahrzehnten ist das künstlerische Experimentieren von Virginia de Medeiros von dem Wunsch nach einer kollektiven Revolution im gesellschaftlichen, politischen und sexuellen Bereich geprägt. Medeiros, die eine militante queere Subjektivität vertritt, startet ihre dreimonatige Residency in Berlin mit der Präsentation ihres Films Trem em Transe [Zug in Trance] (2019). Die Protagonistin Simone, eine selbst ernannte Transvestitin, steht für das Verlangen, das unerträgliche Ausmaß an erlebter sozialer Einsamkeit rückgängig zu machen. Nach einer von einer Überdosis hervorgerufenen „Offenbarung“ wurde Simone in der Person des Pastors Sergio Santos „wiedergeboren“. Die Elemente, die ihr früheres Leben zusammenhielten, Crack und Prostitution, sind im Rahmen einer langjährigen Kur exorziert worden. In Simones Heimat Brasilien liegt die Lebenserwartung von Transgender-Personen bei etwa 35 Jahren. Für diese bedrängten Menschen bieten Mystik und Spiritualismus einen Weg, Fürsorge und Zuneigung zu erhalten. Nichtsdestotrotz sind die liturgischen Gewänder der Evangelikalen nicht in der Lage, den traditionellen Puls des Candomblé im Zaum zu halten. Die Verzweiflung hat zwar den ganzen Körper in Besitz genommen, doch seine Bindung an das Land noch nicht aufzulösen vermocht. Das Zittern, das in die Trance führt, weicht einer unbändigen Lebenslust. So wie die Kamera die kreisförmigen Bewegungen aufnimmt, die durch das Cinema Novo der 1960er-Jahre eines Glauber Rocha berühmt geworden sind, streift Medeiros am liebsten umher; sie verzichtet auf Allegorien, um den offenen Adern des Fanatismus direkt zu begegnen.