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Alte Nationalgalerie

Menzels extremer Realismus

Kuratiert von Michel Fried

Betrachten wir zunächst vielleicht eine von Menzels berühmtesten Zeichnungen, sein großartiges Ungemachtes Bett (um 1845). Die offiziellen Angaben zur Technik dieser Arbeit lauten „Kreide, gewischt, auf grünlich-grauem Papier“. Die Maße des Blattes sind bescheiden, nur knapp über 22 x 35 cm. Ebenso wie die übrigen Zeichnungen und Gouachen der aktuellen Ausstellung befindet es sich im Besitz des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin. Und es stellt sich die Frage: Was bedeutet, bezogen auf diese Zeichnung, meine Behauptung – die ich gerne aufstellen würde –, dass es sich bei Menzel um einen großen Realisten handelt, oder gar das Urteil des französischen Kritikers Edmond Duranty (1880), Menzels Kunst sei von einem – so seine wunderbar kontroverse Formulierung – „extremen Realismus“? Es bedeutet sicher nicht, dass in der Realität jemals ein ungemachtes Bett existiert hat, das exakt so aussah wie jenes in der Zeichnung dargestellte, und zwar aus dem einfachen Grund, dass kein ungemachtes Bett, das in jeder Falte, jeder Wölbung, jeder Kontur von einem solch plastischen Körpergefühl und auf so elektrisierende Weise „lebendig“ ist, sich als möglicher Gegenstand in der Welt vorstellen lässt. Zweifellos hatte Menzel beim Zeichnen ein ungemachtes Bett vor Augen, und sehr wahrscheinlich handelte es sich hierbei um eines, in dem er selbst zuvor geschlafen hatte. Doch das ungemachte Bett, das auf einem Blatt grünlich-grauen Papiers Gestalt annahm, als er es zeichnete, entpuppte sich als etwas vom „Original“ deutlich Unabhängiges, nicht nur, weil es sich dabei um eine Abbildung und nicht um das Ding an sich handelte, sondern auch aufgrund der (in unserem Zusammenhang wichtigen) ausgesprochenen Empathie, mit welcher der Künstler sich in 
sein Motiv hineinfühlte und in dieses hinein sah, eine Empathie, die er letztlich auf seine Zeichnung „projizierte“. Genau das macht die Faszination des Ungemachten Bettes und gleichzeitig die Schwierigkeit aus, sobald man sich einmal darauf eingelassen hat, es wirklich zu sehen – das heißt, auf die empathischen Hinweise zu reagieren, mit denen es aufgeladen ist –, seinen Blick wieder von ihm loszureißen und den nächsten Arbeiten an der Wand zuzuwenden. Oder um es ein wenig anders auszudrücken: Menzels Zeichnung bildet nicht in erster Linie mit unheimlicher Genauigkeit einen Zipfel der Realität ab (obwohl sie dies natürlich auch tut), sondern sie begründet eine neue, äußerst zwingende, quasi körperliche Beziehung zur Realität an sich – man könnte fast sagen, sie erzeugt die Realität, die sie aufzuzeichnen vorgibt. (Mit dieser Formulierung gebe ich Kathrin Rhombergs Gedanken hinsichtlich eines Schwerpunkts dieser Berlin Biennale wieder. Nicht zufällig war es ihre Idee, zu diesem Anlass auch Arbeiten von Menzel zu zeigen.) Kurz: Wäre uns heute nur noch Menzels Zeichnung Ungemachtes Bett erhalten, würde sie ausreichen, seinen Rang als Zeichner von wahrhaft überwältigender Originalität zu sichern.
 Aber natürlich ist diese Zeichnung bei Weitem nicht die einzige uns erhaltene. Im Gegenteil, allein im Kupferstichkabinett in Berlin befinden sich rund siebentausend Blätter, daneben zahlreiche kleine Skizzenbücher, die Menzel zeit seines Lebens führte. Hinzu kommen Hunderte von Ölbildern, Gouachen und Aquarellen, von denen viele nicht weniger originell sind als seine besten Zeichnungen (auch wenn es häufig heißt, Menzel sei in erster Linie Zeichner gewesen; dies ist einerseits wahr und andererseits eine grobe Vereinfachung) – und dabei gleichermaßen geprägt von einer extremen körperlichen Signifikanz. 
Nehmen wir etwa die meisterhafte Gouache Kronprinz Friedrich besucht den Maler Pesne auf dem Malgerüst in Rheinsberg (1861), eine Arbeit im beinahe selben Format wie das Ungemachte Bett, wenn auch eindeutig von höherem Anspruch. Dargestellt ist der damalige Kronprinz Friedrich in Begleitung des Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff im Ballsaal des Schlosses Rheinsberg beim Ersteigen der (unsichtbaren) Stufen eines Gerüsts, auf dem der französische Maler Antoine Pesne an seinem Deckengemälde Apollo vertreibt die Nacht arbeitet. Auf der unteren der beiden Ebenen des Gerüsts ist ein Geiger, das Gesicht seinem Instrument zugeneigt, im Spiel versunken und schlägt dabei mit dem Fuß den Takt, während auf der oberen, in Untersicht gezeigten Ebene der Künstler mit einer spärlich bekleideten Frau, vermutlich seinem Modell, zu tanzen scheint. Links neben dem Musikanten widmet sich ein Gehilfe dem Säubern einer Palette, während zwischen den beiden Figuren auf einem Stuhl – Menzels eigener, wie sich herausstellte – ein kleines Weinglas steht. Durch das Fenster lässt sich Blattwerk erkennen und auf die weitere Umgebung des Gebäudes innerhalb des Anwesens schließen. Die Ausführung der Gouache ist schillernd, außergewöhnlich, unglaublich – gleichzeitig ungemein detailliert und doch irgendwie vage, ja frei in der Behandlung des Ganzen (man gewinnt den Eindruck, eine Welt präsentiert zu bekommen). Mir fällt kein moderner Künstler ein, der auch nur im Entferntesten eine solche visuelle und technische Tour de Force erreicht hätte. Täuschen wir uns nicht: Es handelt sich hier eindeutig um ein modernes Werk, und zwar ungeachtet seines historischen Themas. Ich halte dieses Bild in der Tat für eine „reale Allegorie“ (Gustave Courbets Bezeichnung für sein Atelier du peintre von 1855) auf Menzels ausgesprochen körperlich ausgerichtete Praxis: Man denke hierbei nur an die den Raum erfüllende Musik, die von Friedrich und seinem Begleiter so überzeugend erklommenen Stufen, die, obwohl nicht dargestellt, dennoch in der Vorstellung „präsent“ sind, an die verschiedenen Ebenen des Malgerüsts, die wir als Betrachter überwinden müssen, den tanzenden, Palette und Pinsel in der Linken haltenden Künstler bei seinem sexuell aufgeladenen Pas de deux mit seinem nicht abgeneigten Modell und an die umkippenden Pinsel rechts davon, die eine gewisse freudige Unordnung suggerieren (man ist quasi dazu aufgefordert, sich das Geräusch der Schuhe des Malers auf den unebenen Brettern vorzustellen). Selbst die umgestürzte Gliederpuppe im linken unteren Bildbereich verweist auf den Körper.

Wie persönlich Menzels Ansatz in dieser hinreißenden Kronprinz-Gouache war, lässt sich anhand der außergewöhnlichen aquarellierten Bleistiftskizze Menzel als tanzender Maler (1861) ermessen, welche in der Ausstellung zu sehen ist und ein Selbstbildnis des Künstlers mit einem Pinsel zwischen den Zähnen zeigt (wie wir von Fotografien wissen, pflegte er so zuweilen beim Zeichnen einen zweiten Bleistift zu halten), wobei Menzel hier nicht nur eine Palette von der Art der in der Gouache gesäuberten in seiner Linken hält, sondern auch mehr als ein Dutzend Pinsel, ein seltsames Bouquet, das zwischen seinen Fingern hervorsprießt und förmlich nach einer metaphorischen Deutung schreit (als alternativer Titel dieses Blattes wäre auch „Menzel in Ekstase“ denkbar). Aber auch wenn man von dieser Zeichnung absieht, setzt eine wirkliche Würdigung hinsichtlich Menzels Leistung die Bereitschaft voraus, anzuerkennen, dass seine großartige Gouache trotz ihrer bescheidenen Größe und der Ausführung in einem „minderwertigen“ Medium eine malerische Vollendung aufweist, die ebenso sehr unsere Bewunderung verdient wie die Werke seiner wesentlich berühmteren französischen Zeitgenossen.

Ich weiß nicht, ob dies zur Einführung genügt, doch es scheint mir angebracht, anzumerken, dass Menzels unvergleichliches empathisches Talent ihn nicht zuletzt zu einem für sein Jahrhundert beispiellosen Protokollanten des Anblicks von Tod und Verwesung machte, wie zwei beklemmende, nach einer Schlacht des Deutschen Krieges von 1866 angefertigte aquarellierte Zeichnungen gefallener Soldaten belegen (eine von ihnen ist in unserer Ausstellung zu sehen), vor allem aber jene erstaunlichen Skizzen aus dem Jahr 1873, in denen Schrecken, Schönheit und Genauigkeit der Darstellung sich unauflöslich miteinander verbinden, die sogenannten Leichenporträts friderizianischer Offiziere aus der Gruft unter der Berliner Garnisonkirche. (Die umgestürzte Gliederpuppe der Kronprinz-Gouache mag als erster Entwurf für diese Darstellungen angenommen werden.)

Wenn die Arbeiten, die Kathrin Rhomberg und ich für die Hängung in der Alten Nationalgalerie auswählen durften, einen Eindruck von Menzels überragender Begabung als Zeichner und Maler von Gouachen und Aquarellen sowie eine Ahnung von seiner hochgradig einfühlsamen Sicht auf die Realität vermitteln, hätten wir unser Ziel erreicht.

Text: Michael Fried, 2010

Die Ausstellung Menzels extremer Realismus fand während der Laufzeit der 6. Berlin Biennale in Kooperation mit der Alten Nationalgalerie und dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin statt.