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Auszug aus dem Kurzführer der 11. Berlin Biennale

Der Riss beginnt im Inneren

María Berríos, Renata Cervetto, Lisette Lagnado und Agustín Pérez Rubio

Die 11. Berlin Biennale begann vor einem Jahr mit einer langsamen Öffnung. Seitdem erkundet sie die zahlreichen Risse, die wir in uns tragen, die kleinen Furchen, die uns ebenso trennen wie verbinden. Die eingeladenen Künstler*innen und Teilnehmer*innen der Biennale stellen sich diesem Prozess in ihrer jeweiligen Praxis, mit eigenen Definitionen, in ihrem spezifischen Kontext und ihrer Zeitlichkeit. Einen Raum schaffen, in dem wir diese Erfahrungen teilen können, bedingt, dass wir das wenig nachhaltige Tempo einer Biennale entschleunigen, die Erwartungen an ein singuläres Konzept zurückweisen, uns der nächsten neuen Idee zur Lösung aller Probleme verweigern. Als die Corona-Pandemie vor einigen Monaten die Festung Europa erreichte, hatten wir einen Augenblick lang das Gefühl, die Erde wolle stehenbleiben. Das Virus offenbarte die Brutalität des Alltags und die Ungleichheit, in der die große Mehrheit der Gefangenen des patriarchalischen Kapitalismus zu leben gezwungen ist. Während wir diese Worte schreiben, befinden sich viele, deren Werke in der Ausstellung zu sehen sind, im Süden und nach wie vor im Lockdown. Sie sind da, wo medizinische Versorgung ein Luxus ist, und es nur für die Privilegierten Rettung gibt.

Die Worte „Der Riss beginnt im Inneren“ haben wir bei Iman Mersal entlehnt. Die Dichterin thematisiert die zahlreichen Geister der Mütterlichkeit und höhlt die mit ihnen verbundenen Moralvorstellungen unserer Zeit aus. Mersals Beschreibung gründet in der Ablehnung des Selbstopfers, in der Weigerung, das „Ei [zu sein], das das Neugeborene auf dem Weg ins Leben zerbricht“. Sie stöbert in den Spalten dieses Dissenses, spürt darin die mannigfachen Möglichkeiten auf, die Mutter und Kind in dieser Gebrochenheit tragen: Schmerz und Schönheit, Trauer und Leben. Als Titel des Epilogs der 11. Berlin Biennale verweist Der Riss beginnt im Inneren auf den Betrug, der in der Annahme liegt, hier werde das Alte zerstört, damit etwas Neues entstehen kann, jenes Argument also, auf das die weißen Väter immer wieder als frisches Gerüst für den Erhalt ihrer verfallenden Strukturen zurückgreifen. Dies ist die Gewalt, die uns umgibt. Wir sind ein Teil von ihr.

Der Riss beginnt im Inneren ist eine Komposition des sich überlagernden Erlebens der in der Ausstellung versammelten Kunstwerke, ist gemeinsames Atmen, gegenseitige Berührung und Bewegung. Der Riss beginnt im Inneren legt Zeugnis ab von den wirkmächtigen kollektiven Geschichten, die diese Beiträge erzählen, von der Arbeit, die sie leisten, von dem, was sie erschüttern. Der Epilog ist eine Übung in gegenseitiger Erkenntnis, die Anerkennung der Risse im System, derjenigen, die es zerbricht und ihrer Kämpfe. Wenn die einzwängende Politik der Kompartmentalisierung aufgerissen wird, verschwindet die Kunst nicht im Nichts, sondern sie durchfließt alles. Der Riss beginnt im Inneren verneigt sich vor der solidarischen Verletzlichkeit der Heilenden und Fürsorgenden, der Kämpfenden, vor ihren Frakturen und ihrer Macht.

11. Berlin Biennale, 5.9.–1.11.2020; Kurzführer

11. Berlin Biennale, 5.9.–1.11.2020; Kurzführer