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We Don't Need Another Hero

Über

We don’t need another hero wurde kuratiert von Gabi Ngcobo mit einem kuratorischen Team, dem Nomaduma Rosa Masilela, Yvette Mutumba, Serubiri Moses und Thiago de Paula Souza angehörten. Die Beteiligten setzten sich mit den anhaltenden Ängsten und Sorgen in unserer heutigen Zeit auseinander – Ängste, die durch die Missachtung komplexer Subjektivitäten vervielfacht werden. Die Künstler*innen und anderen Beitragenden der 10. Berlin Biennale denken und handeln in ihrer Auseinandersetzung über den Kunstkontext hinaus und distanzierten sich in der Biennale von einer kohärenten Interpretation von Geschichte(n) oder der Gegenwart. Mit dem Verweis des Titels auf Tina Turners gleichnamigen Song lehnte die 10. Berlin Biennale die Verführung durch Narrative von Heldenfiguren ab. Demgegenüber erkundete sie das politische Potenzial von Strategien der Selbsterhaltung. Dabei verweigert sie sich jedoch starren Wissenssystemen und standardisierten historischen Narrativen, die zur Entstehung toxischer subjektiver Sichtweisen beitragen.

Die 10. Berlin Biennale fand an vier permanenten Ausstellungsorten statt: Akademie der Künste am Hanseatenweg, KW Institute for Contemporary Art, Volksbühne Pavillon und ZK/U – Zentrum für Kunst und Urbanistik. In Koproduktion mit dem HAU Hebbel am Ufer wurden im HAU2 zwei Performances sowie ein mehrtägiges Ausstellungsprojekt mit diskursiven Veranstaltungen und Seminaren gezeigt. Die Ausstellungsorte wurden nicht nur aufgrund ihrer historischen Bedeutung, sondern auch aufgrund dessen, was sie heute repräsentieren, ausgewählt. Mit diesen miteinander verbundenen zeitlichen Ebenen begab sich die 10. Berlin Biennale in Konversation.

Das öffentliche Begleitprogramm I’m Not Who You Think I’m Not gab bereits ein Jahr vor der Eröffnung im Juli 2017 mit einer Auftaktveranstaltung in Kooperation mit der unabhängigen Bildungsinitiative Each One Teach One (EOTO) e. V. die künftige Richtung der 10. Berlin Biennale vor. Es folgten weitere Veranstaltungen vorab – nicht nur in Berlin, sondern auch in Johannesburg, ZA, und Nairobi, KE. Auch im Rahmen des öffentlichen Programms stellte die 10. Berlin Biennale in diversen Formaten generelle Zuschreibungen bezüglich des Daseins und Know-hows infrage und bot eine aktualisierte Grammatik zum Umgang mit der Gegenwart.

Ein besonderer Fokus dieser Berlin Biennale-Ausgabe lag auf einem breit angelegten (Ver-)Mittlungsangebot, das Anlässe für Begegnungen, Austausch und Unsicherheiten schaffte. In einer Vielzahl experimenteller und humorvoller Formate gab die (Ver-)Mittlung Prozessen des Er- und Verlernens Raum und thematisierte blinde Flecken. Künstlerische und partizipative Methoden bildeten die Werkzeuge für die Interaktion zwischen Teilnehmenden, Kunstwerken, dem kuratorischen Team und ausstellenden Künstler*innen sowie den Nachbarschaften der Veranstaltungsorte. Es gab zahlreiche Kooperationen mit sozialen und Bildungseinrichtungen in Berlin und darüber hinaus.

Zwei weitere kuratorische Projekte wurden im Rahmen der 10. Berlin Biennale initiiert: Strange Attractors, ein kuratorisches Publikationsprojekt von Nomaduma Rosa Masilela mit einem eigens gestalteten Leseraum in den KW vereinte Beiträge von Künstler*innen und Archivmaterial. Die Beiträge befassten sich mit Vorstellungen von Kosmologien, zwischenmenschlichen Beziehungen und Größenverhältnissen. Die School of Anxiety, konzipiert von Serubiri Moses, fand in Workshopformaten mit öffentlichen Präsentationen in Johannesburg, Nairobi und Berlin statt. Sie verstand sich als unteaching environment, als ein Raum des Verlernens und der Konstruktion von anderem Wissen mit Fokus auf der Beschäftigung mit subjektiver Angst.

Kurator:innen

Gabi Ngcobo mit Nomaduma Rosa Masilela, Yvette Mutumba, Serubiri Moses und Thiago de Paula Souza

10. Berlin Biennale, 9.6.–9.9.2018; Kuratorisches Team, v.l.n.r., Thiago de Paula Souza, Gabi Ngcobo, Nomaduma Rosa Masilela, Yvette Mutumba, Serubiri Moses; Foto: F. Anthea Schaap

Grafikdesign
Maziyar Pahlevan

Katalogauszug

Dear History, We Don't Need Another Hero

"DEAR HISTORY THIS REVOLUTION HAS WOMEN, GAYS, QUEERS & TRANS. REMEMBER THAT #RHODESMUSTFALL" (LIEBE GESCHICHTE, IN DIESER REVOLUTION GIBT ES FRAUEN, SCHWULE, QUEERS & TRANS. VERGISS NICHT: #RHODESMUSTFALL – RHODES MUSS FALLEN.)

Ein Foto von einem Protestbanner, auf dem diese Worte zu lesen sind, ist eines von vielen ikonischen Bildern, die man mit den Fallists verbindet – einer südafrikanischen Student*innengruppe, die in den vergangenen Jahren aus den Protestbewegungen #RhodesMustFall und #FeesMustFall hervorging. Ein anderes Bild – das eindrücklichste – zeigt, wie die Statue des Imperialisten Cecil John Rhodes vom Gelände der Universität Kapstadt entfernt wird. Das war am 9. April 2015, genau einen Monat nach dem Beginn der Proteste. Auch zu sehen auf diesem Bild ist ein Plakat, auf dem steht: "WE ARE NOT DONE YET“ – wir sind noch nicht fertig.

In meinen kuratorischen Überlegungen hat mich – jenseits der Bilder, die überall im Internet zu sehen waren – besonders ein Bild beschäftigt, das mir lange nicht aus dem Kopf ging: das Bild von dem leeren Betonsockel, auf dem Rhodes mehr als achtzig Jahre lang in Gedanken versunken gesessen hatte. Welche mögliche Zukunft birgt dieser offene Raum, was ermöglicht er uns vorauszusagen?

Die Geschichte in der Gegenwart anzusprechen bedeutet, mit einer unbekannten Zukunft zu sprechen. In der relativen Undurchschaubarkeit der Gegenwart können wir, die wir der heutigen Generation angehören, nicht unmittelbar erfassen, wie sich die Ereignisse der Gegenwart auf unsere möglichen Zukunftsszenarien auswirken werden. Dieses Unwissen sollte uns allerdings nicht davon abhalten, aufzulösen und abzuschaffen, was obsolet geworden ist.

Die dazzle camouflage, die wir als visuelle Identität für die 10. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst gewählt haben, nimmt Bezug auf die Tarnung der Kriegsschiffe aus dem Ersten Weltkrieg, die mit verwirrenden Mustern bemalt wurden – mit der Intention, die Fahrtrichtung, Geschwindigkeit und Größe der Schiffe durch optische Täuschung möglichst unkenntlich machen. Die in ein solches "Tarnkleid“ gehüllte 10. Berlin Biennale ist keine Plattform für überflüssige Verschleierungen, vielmehr erschafft sie einen Raum, von dem aus wir kollektiv von allzu einfachen Vorstellungen vom Wesen des Seins Abstand halten nehmen und sie überwinden können. Die Camouflage, die wir konzipiert haben, ist in Grau- und Rosatönen gehalten, die, zumindest in unserer Vorstellung, jeweils für die Farbe der Geschichte und für die Farbe der Zukunft stehen.

Die 10. Berlin Biennale mit dem Titel We don’t need another hero ist eine Reise, auf der wir uns eine Grammatik für das Unbekannte erschließen. Zu Beginn unserer Reise gibt es die Berlin Biennale schon zwanzig Jahre, und dies ist ihre zehnte Ausgabe – das heißt, wir stehen an einem historischen Wendepunkt. Diese Wegkreuzung verlangt, dass wir uns ihr behutsam nähern, bevor wir weitergehen – oder abbiegen. Der Umstand, dass wir heute an diesem kritischen Punkt stehen, erfordert zudem eine introspektive Herangehensweise. Hier können die Dinge leicht kollidieren und einen Zustand der Verwirrung oder der Verunsicherung hervorrufen. Und hier können wir unsere Einstellungen zur Welt und zu den Menschen, mit denen wir sie teilen, noch ändern.

Einige der zur 10. Berlin Biennale eingeladenen Künstler*innen haben in Zusammenarbeit mit Partnern in verschiedenen Teilen der Welt Residenzen angetreten: Johannesburg in Südafrika, Salvador de Bahia in Brasilien, Santo Domingo in der Dominikanische Republik, Bangalore in Indien, Windhoek in Namibia und Amsterdam in den Niederlanden. Einige Künstler*innen sind auch zu Arbeitsaufenthalten nach Berlin gekommen, aus Port-au-Prince in Haiti, Allada in Benin oder Port of Spain in Trinidad und Tobago. Für uns sind Künstler*innenresidenzen vor allem ein Mittel, Kulturschaffen aus den gewohnten Bahnen zu werfen, indem wir unser Selbstverständnis in der Welt erweitern. Ob dies in der Arbeit in der Biennale unmittelbar sichtbar wird, ist dabei von geringerer Bedeutung. Internationale Künstler*innenaufenthalte sind geeignete Plattformen für eine Beschäftigung mit neu auftauchenden Widersprüchen, die sich aus einem erneuerten Verständnis von alternativen historischen Konfigurationen entwickeln können.

Das Veranstaltungsprogramm der 10. Berlin Biennale I’m Not Who You Think I’m Not wurde im Juli 2017, knapp ein Jahr vor der Ausstellungseröffnung, mit einem Event eröffnet, das in Zusammenarbeit mit Each One Teach One (EOTO) e. V. in Berlin-Wedding veranstaltet wurde, wo auch der Verein seine Räume hat. An der Auftaktveranstaltung nahmen die dem Verein nahestehenden Poeten Philipp Khabo Koepsell und Victor Omere teil sowie – eingeladen von der 10. Berlin Biennale – der Kulturtheoretiker George Shire und die Künstler*innen Donna Kukama und Jota Mombaça. Das öffentliche Veranstaltungsprogramm stimmte auf die lange Reise zur 10. Berlin Biennale ein und wird als offener Raum für Verhandlungen und lebendige Widersprüche fortgesetzt, für die das Format der Biennale-Ausstellung möglicherweise nicht den Rahmen bieten kann. Das Programm distanziert sich von Zuschreibungen bezüglich eines spezifischen Daseins und Know-hows. Als Folge gesellschaftlicher Konstrukte entstehen Annahmen darüber, wie jemand ist oder zu sein hat. [...]

Die 10. Berlin Biennale findet an fünf Orten statt. Die KW Institute for Contemporary Art sind seit den Anfängen im Jahr 1998 Ausstellungsort der Biennale. Diese Institution hatte im Berlin nach dem Mauerfall eine aufregende Geschichte. Sie bietet uns Raum, um über die Narrative, die sie geprägt haben, und über ihre Zukunft in der Stadt nachzudenken. In der Akademie der Künste am Hanseatenweg beschäftigen wir uns mit der Vielzahl an Geschichten, die in den umfangreichen Archiven der Institution enthalten sind, sowie mit der Herkunft ihres exklusiven Mitgliedschaftssystems – und werfen Fragen zum hierarchischen Wesen von historischen Konstrukten auf. Die 5. Berlin Biennale hat 2008 mit dem Künstlerkollektiv KUNSTrePUBLIK zusammengearbeitet, deren Projekt Skulpturenpark Berlin_Zentrum zu einem Ausstellungsort der Biennale wurde. Die 10. Berlin Biennale arbeitet nun erneut mit diesem Kollektiv zusammen: diesmal geht es um eine Kollaboration in einem Raum, den sie inzwischen in Berlin-Moabit aufgebaut haben. Das ZK/U – Zentrum für Kunst und Urbanistik zeigt die Arbeiten von Künstler*innen, die ausgehend von ihren eigenen Subjektkonstruktionen über gebaute Umgebungen reflektieren und darüber, wie sich diese Subjektkonstruktionen in verschiedenen Teilen der Stadt darstellen oder interpretiert werden. In Koproduktion mit dem HAU2 werden an zwei Abenden mehrere musikalische Beiträge präsentiert, die die Geschichte des Kwaito nachvollzieht – eines Musikgenres, das aus den Townships Südafrikas in der Zeit nach 1994 hervorging. Die musikalische Reise wird flankiert von Clubevents sowie Interaktion im HAU2-Projektraum.

We don’t need another hero ist ein kollektiver Dialog und ein Raum, in dem sich ein historischer Prozess artikuliert, der bereits lange in Bewegung ist – hier in Berlin und in vielen Teilen der Welt. Das Auflösen und Neukonfigurieren von jahrhundertelang unterdrückten Vokabularien und derer Komplexitäten ist eine Unternehmung, die uns in Zustände der Unordnung und Verwirrung hineingeworfen hat; es ist „ein Programm absoluter Umwälzung“, um Frantz Fanon zu zitieren. Die 10. Berlin Biennale bietet einen Plan an, wie wir dem kollektiven Wahnsinn begegnen; sie bietet eine Plattform für kollektives Träumen und Handeln. We don’t need another hero ist eine Botschaft an die Zukunft und eine Aufforderung an uns, uns furchtlos der Gegenwart zu stellen.

We are not undone yet.

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Website

bb10.berlinbiennale.de
Stand: 9.9.2018, weitere Information